Verletzung des Versammlungsrechtes. Versammlungen von An‑
hängern gesetzlich nicht anerkannter Religionsgesellschaften.
Mangelhaftigkeit des Verfahrens in Versammlungssachen kann
vor dem VerfGH. geltend gemacht werden.
Erk. v. 14. Dezember 1953, B 92/53.
Durch den angefochtenen Bescheid ist die Beschwerdeführerin im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Versammlungsrecht verletzt worden. Der Bescheid wird daher als verfassungswidrig aufgehoben.
Entscheidungsgründe :
Die Beschwerdeführerin, die mit dem angefochtenen, im Berufungsweg ergangenen Bescheid der Übertretung nach § 2 des Versammlungsgesetzes, RGBI. Nr. 135/1867, schuldig erkannt worden ist, weil sie als Vertreterin der Wachtturmgesellschaft eine öffentliche Versammlung abgehalten hat, ohne sie bei der Behörde schriftlich angezeigt zu haben, fühlt sich hiedurch in den durch Art. 12 und 13 StGG., RGBI. Nr. 142/1867, verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten der Versammlungsfreiheit und der freu Meinungsäußerung verletzt. Sie bestreitet den von der Behörde angenommenen Tatbestand nicht, sondern macht in erster Linie unrichtige rechtliche Beurteilung geltend, weil der Vortrag als Übung eines religiösen Bekenntnisses zu werten sei, die nach § 5 des Versammlungsgesetzes von dessen Bestimmungen ausgenommen sei, weshalb es einer vorhergehenden schriftlichen Anzeige an die Behörde nicht bedurft habe. Das Verfahren sei aber auch mangelhaft, weil die Behörde keine Zeugen darüber einvernommen habe, wie sich diese Versammlung abgespielt habe.
Der Verfassungsgerichtshof hat die Beschwerde aus folgenden Erwägungen für begründet gefunden:
Nach § 5 des Versammlungsgesetzes vom 15. November 1867, RGBI. Nr. 135, sind u. a. Versammlungen oder Aufzüge zur Ausübung eines gesetzlich gestatteten Kultus, wenn sie in der hergebrachten Art stattfinden, von den Bestimmungen dieses Gesetzes ausgenommen. Diese Bestimmung hat — wie der Verfassungsgerichtshof erst jüngst in seinem Erk. vom 24. März 1953, B 185/52, ausgesprochen hat — insofern eine grundlegende Erweiterung erfahren, als gemäß Art. 63 Abs. 2 und Art. 67 des Staatsvertrages von St.-Germain das Recht der öffentlichen Religionsübung heute nicht mehr bloß, wie dies Art. 15 StGG. bestimmt hatte, den Angehörigen der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften zusteht, sondern daß alle Einwohner Österreichs berechtigt sind, öffentlich oder privat jede Art Glauben, Religion oder Bekenntnis frei zu üben, sofern deren Übung nicht mit der öffentlichen Ordnung oder mit den guten Sitten unvereinbar ist. Es sind daher heute auch Versammlungen von Anhängern gesetzlich nicht anerkannter Religionen, sofern sie der Übung eines religiösen Bekenntnisses dienen und „in der hergebrachten Art stattfinden”, von den Bestimmungen des Versammlungsgesetzes ausgenommen.
Nun hat die Beschwerdeführerin, die zu einem in einem Gasthaus stattfindenden „öffentlichen Vortrag” eingeladen hatte, bei ihrer Vernehmung im Verwaltungsstrafverfahren ausdrücklich darauf hingewiesen, (daß es sich bei diesem „öffentlichen Vortrag” um eine Religionsausübung der Zeugen Jehovas gehandelt habe, die nicht unter die Bestimmungen des Versammlungsgesetzes falle. Daß die Abhaltung von Vorträgen religiösen Inhaltes einen sehr wesentlichen Bestandteil von Kultushandlungen, und damit der Übung von Glauben, Religion und Bekenntnis im Sinne des Art. 63 Abs. 2 des Staatsvertrages von St.-Germain, bilden kann, hat der Verfassungsgerichtshof in seinem Erk. Slg. Nr. 2002 ausgesprochen. Der Verfassungsgerichtshof hat dieser Feststellung aber gleichzeitig hinzugefügt, daß ein solcher Vortrag allein noch nicht genüge, um eine Versammlung als eine solche zur Übung eines religiösen Bekenntnisses erkennen zu lassen. Die Übung eines solchen Bekenntnisses setze darüber hinaus die Ausbildung eines, wenn auch zunächst primitiven Kultus voraus. Die Behörde hat es nun unterlassen, irgendwelche Erhebungen in der Richtung zu pflegen, ob die Behauptung der Beschwerdeführerin, es habe sich — im Sinne des vorbezeichneten Erkenntnisses — um eine Religionsübung der Zeugen Jehovas gehandelt, der Wahrheit entsprochen hat. Sie ist nur von der Meldung der Gendarmerie ausgegangen, die, ohne über die Vorgänge bei der Veranstaltung irgendwelche Angaben zu machen, der Veranstaltung den Charakter einer Religionsübung im Hinblick auf die Art der Einladung — Verteilung gedruckter Zettel mit der Aufschrift: „Die Wahrheit, wo ist sie zu finden?” an Wohnparteien ohne Unterschied der Glaubenszugehörigkeit — abgesprochen hat. Es bedarf wohl keiner näheren Begründung, daß der Charakter einer Veranstaltung ob anzeigepflichtige Versammlung oder Übung eines religiösen Bekenntnisses — nicht allein nach der Form, in der die Einladung erfolgt, beurteilt werden kann, sondern daß hiefür Art und Inhalt der Veranstaltung, mithin die Vorgänge, die sich hiebei abspielen, maßgebend sind. Die Unterlassung jeglicher Erhebung in dieser Richtung läßt das Verfahren mangelhaft erscheinen. Nun steht vorliegenden Falles die Frage der richtigen Anwendung des Versammlungsgesetzes zur Entscheidung, eine Frage, die in die ausschließliche Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes fällt, weshalb der Verfassungsgerichtshof auch zur Wahrnehmung von Verfahrensmängeln berufen ist. Da sich der unterlaufene Mangel als wesentlich darstellt, weil die Behörde bei Durchführung entsprechender Erhebungen vielleicht zu einem anders lautenden Spruch hätte kommen können, war der angefochtene Bescheid wegen Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Versammlungsrechtes aufzuheben.