Verletzung des Rechtes der Versammlungsfreiheit. Freiheit der Meinungsäußerung. Abhaltung einer Versammlung durch eine Religionsgesellschaft „in der hergebrachten Art” ist vom Versammlungsgesetz ausgenommen. Mangelhafte Erhebungen der Behörde. Kultusübung.
Erk. v. 24. März 1953, B 185/52.
Durch den angefochtenen Bescheid ist der Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Versammlungsrecht verletzt worden. Der Bescheid wird daher als verfassungswidrig aufgehoben.
Entscheidungsgründe:
Der Beschwerdeführer, der mit dem angefochtenen, im Berufungswege ergangenen Bescheid der Übertretung nach § 2 des Versammlungsgesetzes, RGBI. Nr. 135/1867, schuldig erkannt worden ist, weil er als Vertreter der Wachtturmgesellschaft eine öffentliche Versammlung abgehalten hat, ohne sie bei der Behörde schriftlich angezeigt zu haben, fühlt sich hiedurch in den durch Art. 12 und Art. 13 StGG., RGBI. Nr. 142/1867, verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten der Versammlungsfreiheit und der freien Meinungsäußerung verletzt. Er bestreitet den von der Behörde angenommenen Tatbestand nicht, er macht nur unrichtige rechtliche Beurteilung geltend, weil der von ihm veranstaltete Vortrag als Übung eines religiösen Bekenntnisses zu werten sei, die nach § 5 des Versammlungsgesetzes von den Bestimmungen dieses Gesetzes ausgenommen sei. Es habe daher einer vorhergehenden schriftlichen Anzeige an die Behörde nicht bedurft.
Der Verfassungsgerichtshof hat die Beschwerde aus folgenden Erwägungen für begründet gefunden:
Nach § 5 des Versammlungsgesetzes vom 15. November 1867, RGBI. Nr. 135, sind unter anderem Versammlungen oder Aufzüge zur Ausübung eines gesetzlich gestatteten Kultus, wenn sie in der hergebrachten Art stattfinden, von den Bestimmungen dieses Gesetzes ausgenommen. Diese Bestimmung hat insofern eine grundlegende Erweiterung erfahren, als gemäß Art. 63 Abs. 2 und Art. 67 des Staatsvertrages von St. Germain das Recht der öffentlichen Religionsübung heute nicht mehr bloß, wie dies Art. 15 StGG. bestimmt hatte, den Angehörigen der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften zusteht, sondern daß alle Einwohner Österreichs berechtigt sind, öffentlich oder privat jede Art Glauben, Religion oder Bekenntnis frei zu üben, sofern deren Übung nicht mit der öffentlichen Ordnung oder mit den guten Sitten unvereinbar ist. Es sind daher heute auch Versammlungen von Anhängern gesetzlich nicht anerkannter Religionen, sofern sie der Übung eines religiösen Bekenntnisses dienen und „in der hergebrachten Art stattfinden”, von den Bestimmungen des Versammlungsgesetzes ausgenommen.
Nun hat der Beschwerdeführer, der zu einer in einem Gasthaus stattfindenden „öffentlichen Ansprache” eines Vertreters der Wachtturmgesellschaft eingeladen hatte, bei seiner Vernehmung im Verwaltungsstrafverfahren ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es sich bei dieser „öffentlichen Ansprache” um eine Religionsausübung der Zeugen Jehovas gehandelt habe, die nicht unter die Bestimmungen des Versammlungsgesetzes falle. Daß die Abhaltung von Vorträgen religiösen Inhaltes einen sehr wesentlichen Bestandteil von Kultushandlungen, und damit der Übung von Glauben, Religion und Bekenntnis im Sinne des Art. 63 Abs. 2 des Staatsvertrages von St. Germain bilden kann, hat der Verfassungsgerichtshof in seinem Erk. Slg. Nr. 22002 ausgesprochen. Der Verfassungsgerichtshof hat dieser Feststellung aber gleichzeitig hinzugefügt, daß ein solcher Vortrag allein noch nicht genüge, um eine Versammlung als eine solche zur Übung eines religiösen Bekenntnisses erkennen zu lassen. Die Übung eines solchen Bekenntnisses setze darüber hinaus die Ausbildung eines, wenn auch zunächst primitiven Kultus voraus. Die Behörde hat es nun unterlassen, irgendwelche Erhebungen in der Richtung zu pflegen, ob die Behauptung des Beschwerdeführers, es habe sich — im Sinne des vorbezeichneten Erkenntnisses — um eine Religionsübung der Zeugen Jehovas gehandelt, der Wahrheit entsprochen hat, eine Unterlassung, die das Verfahren als mangelhaft erscheinen läßt. Nun steht vorliegenden Falles die Frage der richtigen Anwendung des Versammlungsgesetzes zur Entscheidung, eine Frage, die in die ausschließliche Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes fällt, weshalb der Verfassungsgerichtshof auch zur Wahrnehmung von Verfahrensmängeln berufen ist. Da sich der unterlaufene Mangel als wesentlich darstellt, weil die Behörde bei Durchführung entsprechender Erhebungen vielleicht zu einem anders lautenden Spruch hätte kommen können, war der angefochtene Bescheid wegen Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Versammlungsrechtes aufzuheben.