Gesetzmäßigkeit des Erlasses des Unterrichtsministeriums, betreffend das Disziplinarverfahren für kirchlich bestellte Religionslehrer. Begriff „Disziplinarvorschriften der Schulgesetze” des Gesetzes BGBl. Nr. 190/1949 § 3 Abs 4. Die Disziplinarstrafgewalt setzt begrifflich den Bestand eines Dienstverhältnisses zum Träger der Diensthoheit voraus. Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes zur Überprüfung von generellen Dienstanweisungen.
Erk. v. 28. März 1953, V 26/52.
Dem Antrag der Wiener Landesregierung wird keine Folge gegeben.
Tatbestand:
Die Wiener Landesregierung hat in ihrer Sitzung vom 9. Dezember 1952 den Beschluß gefaßt, gemäß Art. 139 B.-VG. die Aufhebung des Erlasses des Bundesministeriums für Unterricht vom 22. April 1952, Zl. 7276-IV/20a/51, betreffend das Disziplinarverfahren für kirchlich bestellte Religionslehrer, wegen Gesetz-Widrigkeit zu beantragen.
Der im Verordnungsblatt für den Dienstbereich des Bundesministeriums für Unterricht vom 1. Juni 1952 unter Nr. 71 kund- gemachte Erlaß hat folgenden Wortlaut:
„Disziplinarverfahren für kirchlich bestellte Religionslehrer.
Gemäß § 3 Abs. 4 des Bundesgesetzes vom 13. Juli 1949, be- treffend den Religionsunterricht in der Schule, BGBl. Nr. 190, unterstehen alle Religionslehrer in der Ausübung ihrer Lehrtätigkeit den Disziplinarvorschriften der Schulgesetze. Da die kirchlich (religionsgesellschaftlich) bestellten Religionslehrer in keinem Dienstverhältnis zur Gebietskörperschaft, – sondern nur zur betreffenden Kirche (Religionsgesellschaft) stehen, hat die staatliche Schulaufsichtsbehörde im Falle der Übertretung einer schulrechtlichen Vorschrift oder des Verdachtes einer solchen Übertretung durch einen kirchlich bestellten Religionslehrer ohne Vornahme weiterer Untersuchungshandlungen lediglich die Anzeige an die zuständige kirchliche (religionsgesellschaftliche) Behörde zu erstatten, die die weiteren Veranlassungen zu treffen hat.
Nur in jenen Fällen, in denen Gefahr im Verzuge ist, daß das Weiterverbleiben des betreffenden Religionslehrers in der Schule schwere Schädigungen der Interessen der Schule oder der Schüler mit sich bringt, wird — unter gleichzeitiger Mitteilung an die zuständige kirchliche (religionsgesellschaftliche) Behörde — als vorläufige Maßnahme bis zur Entscheidung durch die zuständige kirchliche (religionsgesellschaftliche) Behörde ein sofortiges Verbot der Unterrichtserteilung durch die staatliche Schulbehörde zu erlassen sein.”
Entscheidungsgründe :
Mit dem von der Wiener Landesregierung angefochtenen Erlaß hat das Bundesministerium für Unterricht die Schulaufsichtsbehörden angewiesen, im Fall der Übertretung einer schulrechtlichen Vorschrift durch einen kirchlich bestellten Religionslehrer sowie bei Verdacht einer solchen Übertretung, ohne Vornahme weiterer Untersuchungshandlungen, die Anzeige an die zuständige kirchliche (religionsgesellschaftliche) Behörde zur weiteren Veranlassung zu erstatten; nur bei Gefahr im Verzuge, wenn das Weiterverbleiben des Religionslehrers in der Schule schwere Schädigungen der Schule oder der Schüler mit sich bringt, sei als vorläufige Maßnahme ein sofortiges Verbot der Unterrichtserteilung durch die staatliche Schulbehörde zu erlassen. Dieser Erlaß stellt sich nach seinem Inhalt — Dienstanweisung an die nachgeordneten Behörden — als generelle Norm einer Verwaltungsbehörde und sohin als Verordnung dar, was übrigens das Bundes-Ministerium für Unterricht in seiner gemäß § 58 Abs. 2 VerfGG. erstatteten Äußerung ausdrücklich zugibt. Kommt dem Erlaß Verordnungscharakter zu, dann ist die Voraussetzung für die Überprüfung seiner Gesetzmäßigkeit durch den Verfassungsgerichtshof im Sinne des Art. 139 B-VG. gegeben.
Die antragsteilende Landesregierung erachtet, daß dem Erlaß die im Art. 18 B.-VG. geforderte Grundlage fehle, da sich kein Gesetz finden ließe, aus dem zu entnehmen wäre, daß die Übertretung schulrechtlicher Vorschriften durch einen kirchlich (religionsgesellschaftlich) bestellten Religionslehrer durch die kirchliche (religionsgesellschaftliehe) Behörde zu ahnden ist. Überdies stehe der Erlaß mit § 3 Abs. 4 des Bundesgesetzes vom 13. Juli 1949, BGBl. Nr. 190, betreffend den Religionsunterricht in der Schule, demzufolge alle Religionslehrer in der Ausübung ihrer Lehrtätigkeit den Disziplinarvorschriften
der Schulgesetze unterstehen, in direktem Widerspruch, weil diese Vorschriften das im Erlaß angeordnete Verfahren und kirchliche Behörden als Disziplinarbehörden nicht kennen.
Dieser Anschauung vermochte sich der Verfassungsgerichtshof nicht anzuschließen. Der angefochtene, Verordnungscharakter tragende Erlaß nimmt ausdrücklich auf § 3 Abs. 4 des Gesetzes über den Religionsunterricht in der Schule Bezug. Er zieht aus der Rechtslage, die sich nach Ansicht des Bundesministeriums für Unterricht aus dieser Bestimmung sowie aus der Bestimmung des § 5 Abs. 2 des Gesetzes, derzufolge die Bestellung von Religionslehrern durch die gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft ein Dienstverhältnis zu den Gebietskörperschaften (Bund, Länder) nicht begründet, ergibt, Schlußfolgerungen über die Handhabung der Disziplinargewalt gegenüber den kirchlich (religionsgesellschaftlich) bestellten Religionslehrern. Die Gesetzmäßigkeit des Erlasses hängt also von der Beantwortung der Frage ab, ob die vom Bundesministerium für Unterricht aus dem Gesetz über den Religionsunterricht in der Schule gezogenen Schlußfolgerungen im Gesetz begründet sind. Zu diesem Zweck ist in erster Linie zu prüfen, welche Bedeutung dem im § 3 Abs. 4 des Gesetzes BGBl. Nr. 190/1949 gebrauchten Worten „Disziplinarvorschriften der Schulgesetze” zukommt. Die Wiener Landesregierung versteht darunter die die Ahndung von Pflichtverletzung regelnden Vorschriften, also Disziplinarverfahrens- und -zuständigkeitsbestimmungen, während nach Meinung des Bundesministeriums für Unterricht nur jene schulrechtlichen Vorschriften verstanden werden können, die sich mit der Schulordnung befassen und die als Verhaltensvorschriften für die Lehrer anzusehen sind.
Es ist zuzugeben, daß der Ausdruck „Disziplinarvorschriften” im gegebenen Zusammenhang nicht sehr glücklich gewählt ist und daher leicht zu der Auffassung führen kann, die dem Überprüfungsantrag der Wiener Landesregierung zugrunde liegt. Eine nähere Prüfung ergibt aber, daß mit diesem Ausdruck nicht dienststrafrechtliche Verfahrens- und Kompetenzvorschriften verstanden werden können, sondern die Gesamtheit der das Verhalten und die Pflichten der Lehrkräfte materiell regelnden Bestimmungen. Dies aus folgenden Gründen:
Die Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage vom Jahre 1949 enthalten keinen unmittelbaren Anhaltspunkt dafür, welche Bedeutung der Gesetzgeber dem Ausdruck „Disziplinarvorschriften der Schulgesetze” beilegt. Sie verweisen nur darauf, daß der Gesetzentwurf hinsichtlich der Rechtsstellung der Religionslehrer im wesentlichen den Grundsätzen des bis 1938 bestandenen Rechtszustandes folgt. Bis zu diesem Zeitpunkt ist das Gesetz vom 20. Juni 1872, RGBI. Nr. 86, betreffend die Besorgung des Religionsunterrichtes in den öffentlichen Volks- und Mittelschulen sowie in den Lehrerbildungsanstalten und den Kostenaufwand für denselben, in Geltung gestanden. Die Wiener Landesregierung hebt in ihrem Antrag selbst hervor, daß § 3 Abs. 4 des Gesetzes BGBl. Nr. 190/1949 fast wörtlich mit dem § 7 des Gesetzes RGBI. Nr. 86/1872 übereinstimmt, der folgenden Wortlaut hat:
„Wer den Religionsunterricht an einer Schule erteilt, untersteht in der Ausübung seiner Lehrtätigkeit den Disziplinarvorschriften der Schulgesetze.”
Dieser Paragraph war in der Regierungsvorlage (Nr. 34 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses — VII. Session) noch nicht enthalten, er wurde erst im Zuge der parlamentarischen Beratung in den Entwurf eingefügt. Der Bericht des Unterrichtsausschusses des Abgeordnetenhauses (Nr. 124 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses — VII. Session) sagt hiezu folgendes:
„Sollen die Störungen vermieden werden, welche für die Erreichung des Schulzweckes im hohen Grade abträglich wären, haben auch diejenigen, welche an einer Schule den Religionsunterricht erteilen, ohne mit Gehalt oder Remuneration angestellt zu sein, bei Ausübung ihrer Lehrtätigkeit ihr Verhalten so einzurichten, daß dasselbe den Schulgesetzen und Schulvorschriften entspricht, und es muß den Schulbehörden im Interesse der Schule das Recht zustehen, gegen die Zuwiderhandelnden einzuschreiten. Es wurde daher, obwohl sich dies schon aus dem Reichsvolksschulgesetz ergibt, die betreffende Bestimmung im § 7 aufgenommen.”
Die Stelle des Reichsvolksschulgesetzes vom 14. Mai 1869, RGBI. Nr. 62, auf die der Unterrichtsausschuß Bezug nimmt, findet sich im § 5 dieses Gesetzes und lautet:
Die Religionslehrer, die Kirchenbehörden und Religionsgenossenschaften haben den Schulgesetzen und den innerhalb derselben erlassenen Anordnungen nachzukommen.
In Übereinstimmung mit dieser Bestimmung des Reichsvolksschulgesetzes besagt § 129 Abs. 2 der Schul- und Unterrichtsordnung vom 29. September 1905, RGBI. Nr. 159, daß die von den Kirchen und Religionsgesellschaften bestellten Religionslehrer in Ausübung ihrer Lehrtätigkeit den Schulgesetzen und den innerhalb derselben erlassenen Anordnungen, insbesondere den Bestimmungen der Schul-und Unterrichtsordnung, wie die übrigen Lehrer nachzukommen haben, und der Abs. 3 dieser Verordnungsstelle bestimmt, daß vor dem Einschreiten in einzelnen Fällen nach Tunlichkeit Verhandlungen
mit der betreffenden Kirchenbehörde bzw. dem Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde einzuleiten sind.
Aus dieser Entwicklungsgeschichte geht mit voller Deutlichkeit hervor, daß die Unterstellung der Religionslehrer unter die „Disziplinarvorschriften der Schulgesetze” die Bindung dieser Lehrkräfte an die bestehenden Schulvorschriften bezweckte, keinesfalls aber eine Unterwerfung unter die Disziplinarstrafgewalt der Schulbehörde. Denn wenn nach dem Bericht des Unterrichtsausschusses den Schulbehörden das Recht des „Einschreitens gegen Zuwiderhandlungen” zustehen soll und wenn auch § 129 der Schul- und Unterrichtsordnung von einem „Einschreiten in einzelnen Fällen” spricht, so bedeutet das lediglich die übrigens selbstverständliche Befugnis der Schulbehörden zur Abstellung etwaiger ‘ Mißstände, nicht aber die – Einräumung einer Disziplinarstrafbefugnis. Der angefochtene Erlaß steht daher mit der Bestimmung des § 3 Abs. 4 des Gesetzes BGBl. Nr. 190/1949 nicht im Widerspruch.
Dem Erlaß fehlt aber auch nicht die durch Art. 18 B.-VG. geforderte gesetzliche Grundlage. Er zieht, wenn er die staatlichen Schulaufsichtsbehörden anweist, im Falle der Übertretung einer schulrechtlichen Vorschrift oder des Verdachtes einer solchen Übertretung zunächst die Anzeige an die zuständige kirchliche (religionsgesellschaftliche) Behörde zu erstatten, nur die Folgerung aus der Bestimmung des § 5 Abs. 2 des Gesetzes, derzufolge die gemäß § 3 Abs. 2 lit. b von den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften erfolgende Bestellung von Religionslehrern ein Dienstverhältnis zu den Gebietskörperschaften (Bund, Länder) nicht begründet. Die Ansicht, daß den Schulaufsichtsbehörden eine Disziplinarstrafgewalt gegenüber solchen Religionslehrern nicht zusteht, ist im Gesetz durchaus begründet, da die Ausübung einer Disziplinarstrafgewalt begrifflich den Bestand eines Dienstverhältnisses zum Träger der Diensthoheit voraussetzt. Dieser Grundsatz hat übrigens in der Bestimmung des § 1 des Lehrerdienstrechts-Kompetenzgesetzes vom 21. April 1948, BGBl. Nr. 88 — eines Verfassungsgesetzes des Bundes —, daß das Disziplinarrecht der Lehrer an den öffentlichen Schulen aller Kategorien zum Dienstrecht gehört, seinen Niederschlau gefunden.
Wenn die Wiener Landesregierung in diesem Zusammenhang darauf verweist, daß es kein Gesetz gäbe, demzufolge die Übertretung schulrechtlicher Vorschriften durch einen kirchlich (religionsgesellschaftlich) bestellten Religionslehrer durch die kirchliche (religionsgesellschaftliche) Behörde zu ahnden sei, so übersieht sie dabei, daß der angefochtene Erlaß den kirchlichen (religionsgesellschaftlichen) Behörden keineswegs konstitutiv eine Disziplinarstrafgewalt einräumt,
sondern der Tatsache Rechnung tragend, daß den Schulaufsichtsbehörden eine Disziplinarstrafgewalt über solche Religionslehrer nicht zusteht, die Schulaufsichtsbehörden lediglich anweist, Übertretungen schulrechtlicher Vorschriften der kirchlichen (religionsgesellschaftlichen) Behörde anzuzeigen, der es überlassen bleiben muß, nach ihrem Ermessen und nach Maßgabe der kirchlichen (religionsgesellschaftlichen) Vorschriften die weiteren Folgerungen aus dem Verhalten des Religionslehrers zu ziehen, während den Schulaufsichtsbehörden zur Wahrung der ihnen anvertrauten Schuldisziplin und der Aufrechterhaltung eines geregelten Unterrichtsbetriebes jederzeit das Recht zusteht, ein sofortiges Verbot der Unterrichtserteilung zu erlassen, welches Recht seine Grundlage im § 2 Abs. 1 des Gesetzes BGBl. Nr. 190/1949 findet.
Da sohin der angefochtene Erlaß im Bundesgesetz vom 13. Juni 1949, BGBl. Nr. 190, betreffend den Religionsunterricht in der Schule, seine Deckung findet, war dem Antrag der Wiener Landesregierung keine Folge zu geben.