Absoluter Zwang ist auszuschließen, da Andreas‘ Wille nicht völlig gebrochen wurde. Immerhin willigte er nämlich in den Hochzeitstermin ein.
Ad 1. Furchteinflößendes Übel
Falls Andreas nicht geheiratet hätte, hätte er mehrere Übel zu erwarten gehabt: Ärger mit dem Vater. Der Vater hätte ihn nicht mehr in seinem Haus wohnen lassen. Am Hochzeitstag selbst drohte zudem eine Blamage, weil die Gäste schon warteten. Zusätzlicher Druck mag durch die Schwangerschaft hinzugekommen sein.
Ad 2. Schwere
Ad 2a. Subjektiv schwer
Diese Übel wogen für Andreas subjektiv schwer. Er wusste, dass der Vater autoritär und dominant war. Zwar lebte er während des Militärdienstes schon eine Weile außerhalb, aber er hatte noch nicht wirklich ein eigenständiges Leben aufgebaut. Er war noch ziemlich jung, hatte eben erst die Schule und den Militärdienst abgeschlossen. Die Drohung, dass er ausziehen müsse, wog besonders schwer, da er noch keine Arbeit und damit keine Existenzgrundlage hatte.
Ad 2b. Ehrfurchtszwang
Da Andreas vom Vater emotional und materiell abhängig war, genügen auch leichtere Beeinflussungsversuche wie das tägliche Einreden. Ehrfurchtszwang ist zu bejahen.
Ad 3. Von außen eingeflößt
Die Furcht wurde von außen eingeflößt nämlich sowohl durch das Drängen der Eltern Angelas als auch durch das Zureden und die Drohung des eigenen Vaters. Ob außerdem der Druck, der durch die Schwangerschaft entstand, von außen eingeflößt wurde, lässt sich aufgrund der Sachverhaltsdarstellung nicht eindeutig feststellen, weil nicht deutlich wird, von wem er ausging.
Ad 4. Kausalität
Ad 4a. Notwendige Ursache
Dass Andreas ohne die Furchteinflößung nicht geheiratet hätte, zeigt sich deutlich an seinem Widerstand gegen die Hochzeit. Er willigte erst aufgrund der Beeinflussung ein. Noch am Hochzeitstag wollte er sich durch die Flucht auf den Dachboden bzw. durch Alkoholkonsum entziehen. Es gibt kein Anzeichen dafür, dass Andreas Angela überhaupt mochte, so dass er auch aus Liebe oder wenigstens Sympathie geheiratet hätte. Sie war von schlechtem Ruf und die beiden waren schon in der Schulzeit nicht befreundet.
Ad 4b. Ausweglosigkeit
Andreas‘ Verhalten nach der Hochzeit macht die Kausalität noch deutlicher: Sobald er eine Arbeitsstelle gefunden hatte und sich ihm damit ein Ausweg bot, verließ er die Frau. Diese Möglichkeit tat sich aber erst nach der Hochzeit auf. Die extrem kurze Ehedauer ist ein Indiz für das Vorleigen des Nichtigkeitsgrundes.
Ad 4c. Indirekte Kausalität
Die Kausalität ist direkt, weil die Personen die Furcht gezielt eingeflößt haben, um die Heirat zu erreichen. Es würde aber am Ergebnis nichts ändern, wenn die Furcht ohne die Absicht eingeflößt worden wäre, Andreas zur Heirat zu bewegen.
Ergebnis
Da alle Tatbestandsmerkmale vorliegen, steht fest, dass die Ehe nichtig ist wegen schwerer Furcht auf Seiten des Mannes.
ABGRENZUNG VON ANDEREN NICHTIGKEITSGRÜNDEN:
Totalsimulation
Bei einer Eheschließung aus Furcht liegt ein Ehewille vor, wenngleich dieser nur durch die Furcht zustande gekommen und daher mangelhaft ist. Bei einer Totalsimulation wird die Ehe hingegen als solche abgelehnt. Die starke Abneigung Andreas‘ gegen die Eheschließung und das Motiv, sich nur wegen des Friedens in der Familie bzw. zur Verbesserung der finanziellen Situation des Vaters darauf einzulassen, sprechen gewissermaßen für eine Totalsimulation. Dazu müsste aber gezeigt werden, dass Andreas‘ Wille nicht nur gebeugt wurde, sondern dass Andreas am Hochzeitstag die Zeremonie gleichsam willenlos bloß über sich hat ergehen lassen. Im Sachverhalt heißt es wenigstens, dass Andreas dem Hochzeitstermin schließlich doch eingewilligt hat. Das ist ein Hinweis darauf, dass doch ein Wille vorhanden war. Jedenfalls kann die Ehe nicht aus beiden Gründen zugleich nichtig sein, weil sich Furcht und Totalsimulation gegenseitig ausschließen.
Fehlender Vernunftgebrauch
Ein Anhaltspunkt für einen akuten fehlenden Vernunftgebrauch gemäß c. 1095 ° 1 CIC könnte in der Bemerkung liegen, sich zu betrinken. Daraus ergibt sich jedoch nicht, ob Andreas auf dem Dachboden schon getrunken hatte oder dies erst beabsichtigte. Erst recht liegen keine Angaben dazu vor, wieviel Alkohol er bis zur kirchlichen Trauung tatsächlich konsumiert hatte und wie sie sich das auf seinen Geisteszustand auswirkte.
Nichtvollzug
Das gemeinsame eheliche Leben dauerte nur wenige Wochen. Sympathie war offenbar nach wie vor keine vorhanden und Angela war in dieser Zeit zudem schwanger. Man könnte somit vermuten, dass die Ehe ab der kirchlichen Trauung nicht vollzogen wurde, doch liefert der Sachverhalt zu wenig Hinweise, um dies zu prüfen. Wenn die Ehe nichtig ist – was bereits bejaht wurde –, ist ohnehin kein gültiges Eheband zustande gekommen, das durch ein Nichtvollzugsreskript aufgelöst werden könnte.
ZUM TATSÄCHLICH GESCHEHENEN FALL
In dem tatsächlich geschehenen Fall sprach der Vater von Andreas keine direkte Drohung aus („Wenn du…, kannst du woanders hinziehen“), doch ergab sich die Haltung des Vaters aus seinem Verhalten. In dem Land, in dem sich der Fall ereignete, hätte ein Arbeitsloser gar keine Wohnung bekommen können.Außerdem waren sich Andreas und sein Umfeld wegen Angelas Lebenswandels gar nicht sicher, ob das Kind von ihm stammte. Im tatsächlich geschehenen Fall bildete die Schwangerschaft somit kein Motiv für die Eheschließung, sondern stellte eher einen weiteren Grund für die Abneigung gegenüber Angela dar. Daraus erklärt sich auch, dass Andreas die Geburt des Kindes nicht mehr abgewartet hat.